Heute ist der 19. Lenzmond 26 n.B.

Der Alte stützte sich schwer auf seinen Gehstock. Die Sonne stand hoch am Himmel. Bald würde sie ihren Zenit erreicht haben, doch vermochten ihre Strahlen seine steifen Glieder nicht zu wärmen, denn es war Winter und die Umgebung war unter einer dünnen Schneedecke verborgen.

Mit kalten Fingern zog er den verschlissenen Mantel enger um die Schultern und beobachtete mit der Geduld, die nur das Alter zu schenken vermag, wie die Einwohner Landfalls, größtenteils junge Burschen und Mädchen, einige wenige Heranwachsende sowie zwei Büttel aus den umliegenden Häusern und Katen heraustraten und sich, in dicke Mäntel, Umhänge und Tücher eingehüllt, in einem ob der Kälte recht engen Kreis, dem Symbol des RiaCommon, um ihn scharten.

In ihren Minen konnte der Alte wechselhafte Gefühle lesen. Die Heranwachsenden bedachten ihn mit ehrfürchtigen Blicken. Auch, wenn er nicht in die Gewänder der Priester gehüllt war, schließlich war er ja auch keiner, war seine tiefe Verbundenheit zum Neuen Glauben doch allgemeinhin bekannt und die, die dem Neuen Glauben folgten, respektierten und achteten ihn für seine geistige Führung in religiösen Belangen. Und gerade die Jungen waren viel eher bereit, den Alten Glauben hinter sich zu lassen und sich dem Wahren Glauben zuzuwenden.

Das galt jedoch für so manchen Yddländer nicht, wusste der Alte. Vielerorts stand man dem Siebenglauben noch skeptisch gegenüber und ließ die Gottesdienste eher stumpf über sich ergehen, als voller Demut, Ehrfurcht und Glaube daran teilzunehmen. Doch er war zuversichtlich, dass die Prediger, die ihm folgen würden, mit der Zeit auch diesen Zweiflern die Lehren und Tugenden der Sieben näher bringen konnten, wenn sie nur geduldig genug waren.

Doch neben den Jungen, die den Alten Ahnenglauben kaum je praktiziert hatten und die sich ohne Zweifel und Mühen dem Siebenglauben zuwandten und denen, die noch immer zweifelten und sich nur widerwillig beugten, gab es in dem kleinen Ort auch noch diejenigen, die ihren Geist und ihre Seele zwar grundsätzlich dem Neuen Glauben geöffnet hatten, sich jedoch nicht völlig von alten Riten und Gebräuchen hatten lossagen wollen. Und diese, so wusste der Alte, stellten auch die Mehrheit des Yddländischen Volkes dar, so dass sich vielerorts, wie auch hier in Landfall, der Neue Glaube mit den traditionellen Riten verbunden hatte.

Als das leise Gemurmel und Füße scharren um ihn herum verstummt war, stimmte der Alte mit rauer aber klar vernehmlicher Stimme das traditionelle Gebet an:

„Wanderer siehe,
das Tal der Zukunft breitet sich aus, vor Deinen Augen.
Wisse, Dein Weg ist der Pfad der Götter
und glaubst Du rückzukehren,
so ist Dein Schreiten in Wahrheit vor.
Die Brücke zur Zukunft heißt Vergangenheit,
und der Schlund über den sie sich erstreckt Gegenwart.
Weißt Du um die Zahl der verronnenen Sandkörner,
der Strahlen vergangenen Lichtes
hast die Wurzeln Deiner Väter und Väterväter begossen,
wirst Du der Weisheit die da Ewigkeit genannt gewahr.
Die Verdammnis fällt ab von Dir immerfort
und die Gunst der Götter ist Dir gegeben
so Du lebst wie sie es von Anbeginn wollten:
Die Zukunft verbirgt sich in der Vergangenheit.
Machst Du sie Dir zur Gegenwart,
ist das Tal welches Du durchmessen hast Dein.
RiaCommon. In Ewigkeit. Almarna.“

Zufrieden beobachtete er, wie die meisten Teilnehmer des kleinen Gottesdienstes ehrfürchtig und in Stille versunken seinem Gebet folgten. Als der Nachhall seiner letzten Worte verklungen war ließ er einige Augenblicke verstreichen, ehe er den Blick wieder durch die Runde schweifen ließ.

„Bewohner von Landfall, Menschen von Moosgrund“, er machte eine kleine Pause, „Volk Yddlands!“ Stolz ob dieser Anrede schlich sich in die Blicke der Anwesenden, Rücken strafften sich, interessierte Blicke wandten sich ihm zu. Eine gute Voraussetzung für seine Predigt, dachte er zufrieden.

„Geh´ wie Dir die Götter geheißen und spotte ihrer nicht und hadere nicht mit deinem Schicksal“, so zitierte er frei aus der Heiligen Schrift. „Wenn du erntest in den guten Zeiten, so bringe den Göttern einen Teil deiner Ernte dar, um ihnen zu danken für das was du erhalten. Die Gunst ist mit den Stillen, fordere nicht was du nicht hast sondern danke für das, was du hast und es wird dir gegeben was du dir gewünscht.“

Der Nachhall seiner Worte reichte weit in die Stille hinein, ehe er mit sicherer Stimme fortfuhr.

„Und so begab es sich seinerzeit, dass Fürst Berard von Yddland die Yddländische Fürstenkrone der Trigardonischen Fürstenkrone unterordnete und Trigardon so zum Hochfürstentum machte. Dies war der Wille der Sieben und so geschah es. Und Yddland haderte nicht mit seinem Schicksal, wie sein Fürst ordnete sich auch das Volk den fremden Herren unter. Und so folgte eine Zeit der Fremdherrschaft, ehe einer kam, das Land zu altem Stolz zurück zu führen.

Statthalter Tassilo kam auf die Insel mit Freund und Geleit und brachte mit ihm die Saat der Hoffnung. Hoffnung auf Wiederherstellung der stattlichen und politischen Ordnung, wie sie von RiaSion gewollt ist, in der von der Hochfürstenkrone vernachlässigten Provinz, Hoffnung auf die Durchsetzung von Recht und Gesetz, Hoffnung auf eine starke Führung.

Lange Jahre setzte Tassilo sich vor den Fürsten für das Volk, für einen jeden von euch, ein, erst als Protektor, dann als Statthalter. Und mit sich brachte er Männer und Frauen, die er bewaffnete und die in seinem Auftrag und Namen die Einhaltung von Recht und Gesetz durchsetzten. Männer und Frauen, die euer Eigentum schützten. Frauen und Männer, die eure Feinde vertrieben, zuletzt die Männer aus dem Norden an den Küsten vor diesem Ort.

Mit sich brachte er Berater, die das Volk kannten, die weit gereist waren und weise Ratschläge geben konnten. Mit sich brachte er Freunde, die fremde Länder und Kulturen gesehen haben. Und mit sich brachte er den Willen, sich in den Dienst der Götter und vor das Yddländische Volk zu stellen.

Und der Protektor erntete. Er erntete das Vertrauen unseres Volkes, er erntete politische Unterstützung von Verbündeten und er erlangte von den Fremdherrschern den Markgrafentitel. Und der Markgraf zeigte sich überaus dankbar ob dieses Geschenkes und fand in seiner Überwältigung nur einen Weg, RiaSion und seinen sechs Geschwistern zu danken: Er empfing die Taufe und wandte sich dem Wahren Glauben zu.

Und die Götter nahmen diesen Glaubensbeweis huldvoll entgegen. Jahr um Jahr zeigte der Markgraf sich seiner Verantwortung gewachsen und führte das Land zu neuer Blüte. Er huldigte Riaranjoscha, deren Wasser die Insel umspült, er schaffte den Anhängern der Riasina einen Ort, wo sie ihr Wissen mehren und weiter tragen konnten, er pries Riaplot für die Früchte seines Leibes, die sein Volk ernährten, er brachte Riasons Recht und Gerechtigkeit nach Yddland, er erweckte und schürte in den Herzen seiner Gefolgsleute die brennende Leidenschaft und den Stolz RiaModans und zeigte dem Volk einen Weg hinfort von der götzenhaften Verehrung toter Vorfahren, die doch eigentlich mit Riadugoras Segen ruhten. Und zuletzt war es RiaSion, der die neue Ordnung betrachtete, die der Markgraf auf die Insel gebracht hatte, und sein Lohn war Unabhängigkeit für das Yddländische Volk. So leitete der das Handeln und die Gedanken unseres obersten Lehensherrn und wies ihm den Weg zur Freiheit.

So lasset uns gemeinsam RiaSion preisen, den Schöpfer der weltlichen und göttlichen Ordnung, und ihm danken für seine vorausschauende und wohlwollende Führung!“ Kaum noch stützte sich der Alte auf seinen Gehstock, so sehr war er in seine Predigt vertieft, beinahe entrückt. Frei und doch Wortgenau rezitierte er die Lobpreisung RiaSions aus der Heiligen Schrift:

„Oh Riasion, ich kenne Dich und ich preise Deinen Namen.
Der, dessen Thron am Himmel steht, Herr der vollständigen Wahrheit, so ist Dein Name.“

Die Menschen um ihn herum hatten sich schon längst von seinen Worten mitreißen lassen, ihre Herzen standen ihm offen, ihr Geist nahm seine Worte begierig auf. Wie aus einer Kehle antworteten sie „So ist Dein Name!“

„Der, dessen Auge Leben bringt, Herr der Erleuchtung am Tage, so ist Dein Name.
Der, Dessen Lächeln Reichtum bringt, Herr Der Güldenen Gesetze, so ist Dein Name.
Du bist aufgegangen im Osthorizont und hast jedes Land mit Deiner Schönheit erfüllt.
Schön erscheinst Du im Horizonte des Himmels, Du lebendige Sonne, Die alles Leben bestimmt.
Schön bist Du, strahlend und groß, hoch über allem Land.
Fern bist Du, doch Deine Strahlen sind auf Erden.
Deine Strahlen umfassen alle Länder bis ans Ende von allem was unter Deinem Himmel ist.
Du bist in ihrem Angesicht, doch unerforschlich ist Dein Lauf.
Du bist Riasion, wenn Du die Grenzen des Himmels erreichst und sie niederbeugst für Deinen geliebten Sohn.
Oh Riasion, Dein Antlitz ist die strahlende Sonne.
Oh Riasion, Deine Tugend heißt Wahrheit.
Oh Riasion, Dein Wille ist die ewige Tagnacht.
RiaCommon. In Ewigkeit. Almarna.“

Nachdem der Chor der Gläubigen, der auch diese letzten Worte inbrünstig wiederholt hatte, verstummt war, fühlte sich der Alte atemlos. Als hätte er sich ganz verausgabt, musste er sich nun wieder auf seinen Gehstock stützen.

Mit der linken Hand winkte er einem der Burschen, ihm das mit Port gefüllte Horn zu reichen, welches er auf dem Boden vor sich abgestellt hatte. Seine Glieder waren bei Weitem zu alt, als dass er sich bei diesem Wetter noch hätte schmerzfrei bücken können. Er nahm dem Burschen das Horn aus den Händen und reichte es feierlich an die junge Magd zu seiner Linken weiter. „So fordere ich nun euch alle auf, euren Gedanken und Hoffnungen Ausdruck zu verleihen und sie mit unserer Glaubensgemeinschaft zu teilen.“

Behutsam, um nichts zu verschütten, nahm die junge Frau dem Alten das Horn aus den Händen. Er lächelte sie aufmunternd an. Es hatte viel Zeit gekostet, das Yddländische Landvolk, das nicht an diese Art von Gottesdiensten gewöhnt war, behutsam an die aktive Teilnahme an den eben jenen heranzuführen und sie gar dazu zu bringen, in dieser Runde selbst einige Worte zu sprechen.

„Ich danke den Sieben, dass sie unsere Wege führen, ich danke unserem Markgrafen, dass er uns in die Freiheit geführt hat und ich hoffe, der Winter wird nicht zu hart, sonst werden wir erfrieren, denn unsere Hütte ist sehr zugig. Riacommon. In Ewigkeit. Almarna.“Die anderen stimmten in die letzten Worte der Magd ein und der Alte musste schmunzeln. Das einfache Volk hatte oft einfache Wünsche und Sorgen, die ihr Leben bestimmten, fernab von Unabhängigkeit oder Krieg, und die sie daher an die Götter herantrugen.

Die junge Magd nahm einen zaghaften Schluck aus dem schweren Horn und reichte es an ihren Gemahl weiter. Und so ging das Gefäß unter ihnen einmal im Kreis, und ein jeder sprach einige Worte und teilte seine Gedanken zu dem, was der Alte gesagt hatte, mit den anderen. Jeder von ihnen beendete seine meist kurzen Ausführungen mit dem „Riacommon. In Ewigkeit. Almarna“ und führte das Horn an die Lippen, und so teilten sie den Inhalt miteinander.

Als das Horn den Kreis einmal durchlaufen hatte und wieder bei dem Alten ankam, nahm auch dieser einen kräftigen Schluck. Süßer Port lief ihm in den Bart, den er sogleich mit einer beiläufigen Bewegung abstrich. Er winkte wieder dem Burschen, ihm das Horn abzunehmen und schaute dann zufrieden in die Runde. Heute waren viele gekommen, und es wurden jeden Tag mehr.

„So lasset und denn gemeinsam die Sieben preisen“, rief er aus. Und mit inbrünstigem Gesang stimmte er die überlieferten Zeilen an, die eigentlich das ganze Wesen dessen, woran er glaubte, in wenigen Worten zusammenfasste: „So wie die Sieben alles sind, so ist alles eins in den Sieben.“ Auch die anderen stimmten in den Gesang ein, manche leise und zaghaft, andere ebenso inbrünstig wie der Alte selbst.

Nach insgesamt sieben Wiederholungen des Chorals stampfte er mit seinem Gehstock auf den Boden. Er hatte auch schon Priester gesehen, die an dieser Stelle eine Glocke läuteten oder einen Gong schlugen oder vergleichbares, aber solcherlei Dinge hatte er nicht zur Hand. Die Aufmerksamkeit seiner der Glaubensgemeinschaft wandte sich zur Mitte ihres Kreises, wo ein großer Kessel stand. Der Alte fand das zwar nicht zufriedenstellend, doch der Winter war kalt und keiner konnte es sich leisten, Holz zu entbehren, um ein Feuer aufzuschichten, wie sie es sonst hielten.

„So lasset uns nun die Herren der Welt beschenken und den Sieben unsere Opfergaben darbringen, auf dass sie ihren Blick wohlwollend auf uns ruhen lassen und unsere Gebete ihr Gehör finden mögen.“ Die junge Magd zu seiner Linken trat einige Schritte vor zum Kessel und warf einen Kanten Brot hinein. Für einen Augenblick schloss sie die Augen und betete still, ehe sie wieder zurück in den Kreis trat. Wohlwollend nickte der Alte dem nächsten im Kreis zu. Die Opfergaben der Landfaller in dem Kessel würde er später dem offenen Meer und damit dem Willen der Sieben überantworten.

Nach und nach traten sie alle vor und sammelten ihre Opfergaben in dem Kessel. Es waren größtenteils alltägliche Dinge, welche die Menschen entbehren konnten: Lebensmittel, ein Schluck Met aus einem Weinschlauch, einer warf gar ein Stück Feuerholz in den Kessel. Gaben wie Geld, Schmuck oder andere, wie sie die Reichen oft den Sieben opferten, konnte die Landbevölkerung gar nicht aufbringen.

Den Ritus der Opfergaben übernahmen die Yddländer dem vor der Missionierung vorherrschenden Ahnenglauben. Da sie schon immer den Geistern ihrer Ahnen, Naturgeistern und ähnlichem geopfert hatten, führten sie diese Tradition nun auch im Neuen Glauben fort, und der Alte fand, dass es nicht schaden konnte, die Sieben durch Geschenke, Aufmerksamkeiten und Entbehrungen, die von Herzen kamen, milde zu stimmen.

Als alle Gaben im Kessel gelandet waren und die Reihe an ihm war, beugte er sich über den Kessel und ließ wie immer einige wenige Tropfen seines Blutes auf die anderen Opfergaben tropfen. Er war ein alter Mann und hatte sich daher erst spät mit Leib und Seele dem Neuen Glauben verschrieben. So blieb ihm nur noch wenig Zeit, die Sieben von seiner aufrichtigen Gefolgschaft zu überzeugen und er fand, die einzig angemessene Opfergabe dafür war etwas von seinem Blut, seinem Leben.

Auch er trat schließlich nach einem kurzen stillen Gebet vor dem Kessel zurück in den Kreis und sprach auf den Gehstock gestützt die abschließenden Worte: „Mögen die Sieben einem jeden von euch Geleit auf euren Wegen bieten, euch Stärke und Trost, Hoffnung und Frieden schenken, eure Herzen mit Stolz und Zuversicht füllen und euch mit Demut, Geduld und einem langen Leben segnen.“

Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten als der Kreis der Gläubigen auseinander ging. Einige blieben, um ihm Worte des Dankes für diesen Gottesdienst auszusprechen, doch viele strömten ob der beißenden Kälte eiligst zurück in ihre Hütten oder an die Arbeit. Einer der Burschen trug den Kessel mit den Opfergaben bereits in Richtung Drachenmeer.

Auf den Gehstock in seiner Rechten gestützt folgte der Alte ihm, vorbei an seiner Kate, die man ihm in dem kleinen Ort für die Dauer seines Aufenthaltes hergerichtet hatte. Bald würde er weiter reisen um den Menschen im nächsten Ort sein religiöses Geleit anzubieten, würde Missionierungsarbeit leisten und seine Landsleute auf den Weg zum Wahren Glauben leiten.

Und sein Name war Jargan.

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