"In den Feenwald?"
"Niemand geht in den Feenwald!"
Ich erinnere mich genau... dies waren stets die Worte von Rekos Vater. Er erschrak davor, wie laut er eben diesen Satz vor sich hin geredet hatte. Es war der erste Gedanke, den Usilian greifen konnte und es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, seitdem er voller Schrecken aus seinem Traum aufgewacht war.
„Ein Traum... nein... bei den Sieben, dies war kein Traum“, sagte er zu sich, in der Hoffnung es würde ihn auch nur ein wenig beruhigen. Ein anderer Gedanke schob sich vor sein geistiges Auge und es stimmte ihn traurig. Er wollte diesen Gedanken nicht, aber im Inneren wusste er, dass es wohl die bittere Wahrheit sein musste. Die bittere Wahrheit, dass sein langjähriger Freund Reko gestorben war.
Dieser Gedanke schnürte Usilians Hals zu. Er wäre am liebsten im Bett sitzen geblieben, nachdem er so unsanft aus seinem tiefen Traum aufgewacht war, jedoch schoss ihm ein Gedanke in den Kopf und er war geschwind auf seinen Beinen. Er lief zu dem verschnürten Paket aus Leinen und starrte einen sehr langen Augenblick einfach nur darauf. Mit einem Seufzer nahm er es, drehte es langsam herum und wickelte es auf. Der Anblick stimmte ihn noch trauriger... es war sein Schwert... Rekos Schwert, welches ihm sein Vater kurz nach seiner Geburt in die Wiege gelegt hatte. Usilian legte es behutsam beiseite, entdeckte einen Brief und begann ihn zu lesen.
Doch je öfter seine Augen immer wieder den Zeilen folgten, so bestärkte sich die Gewissheit, dass er gestern seinen Freund Reko zum letzten Mal gesehen hatte. "Du wirst wissen, wann Du es öffnen darfst. Mögen die Sieben Dich bestrafen, wenn Du es vorher tust." Mit diesen Worten gab mir Reko gestern vor dem Steinbruch zur Mittagssonne das Paket und dreht sich um, ohne einen Blick zurück zu werfen.
Usilian war sehr verwundert, jedoch hatte er heute wieder schwer zu schaffen, somit einfach keine Zeit und wollte ihn bei der nächsten Morgensonne zur Rede stellen.
Er las den Brief noch mal, doch nichts verbesserte sich daran ...
"Mein lieber Freund Usilian,
ich werde nicht lange abschweifen.
Heute Nacht werde ich mein Vorhaben in die Tat umsetzen. Ja, ich werde ihn betreten, damit endlich meine Fragen beantwortet sind. Die Fragen, welche mich in den letzten Monden nicht mehr richtig schlafen ließen, ich muss sie beantworten. Es ist so, als ob mich eine innere Stimme ruft. Falls ich nicht zurückkehren werde, nimm mein Schwert als Bezahlung und richte meinen Grabstein vor dem Wald auf. Dort, wo wir im letzten Lenzmond vor dem Feenwald gestanden und uns ohne Worte verstanden haben.
Falls ich nicht zurückkomme, suche mich nicht, meinen Leichnam wird selbst Riadugora nicht mehr finden. Es tut mir leid mein Freund, wenn ich dich enttäuscht habe... doch du wirst wissen, was mit mir geschehen ist.
Du warst stets ein guter Freund, Usilian, pass gut auf dich auf.
Dein Freund Reko."
Und er wusste wirklich was geschehen war. In seinem Traum, ja eigentlich in seiner Vision, fast schon eingebrannt in seinem Kopf, sah er die letzten Minuten immer wieder wie einen Fluß vorbeifließen.
Er sah wie Reko lief. Es war dunkel und er lief vor etwas davon, doch er hatte keine Angst. Reko blickte um sich; so sah also der Feenwald von innen aus. Bäume mit einem Stamm von acht Schritt Umfang. Dunkle Bäume, morsche verwinkelte Äste, die sich mit anderen Bäumen verschlungen hatten. Blätter, die dunkelgrün, fast schwarz erschienen. Ein weicher Boden, kaum gut zu gehen, noch schlechter zum Rennen. Reko blickte immer hinter sich, doch er sah nicht das, was ihn zu verfolgen schien. Dann sah Reko etwas aus dem Dunkeln auftauchen und befand sich vor einer kahlen Felswand. Das Gestein tiefrot, mit dunkelgrünem Moos, welches tausend Wassertropfen auf den Boden schickte. Links und rechts befanden sich Äste auf dem Boden, als ob sie von großer Last von den Bäumen runter gebrochen wurden. Große Blätter wogen sich überall und ließen Regentropfen wie Seidenfäden zu Boden fließen. Er drehte sich herum und sah sie.
Drei blaue, dunkel-leuchtende Lichter, so dunkel, dass man sie kaum noch erkennen konnte und gleichzeitig geblendet war von ihrem Schein. Sie tänzelten um Reko herum, jetzt konnte er seine Angst fühlen, aber er fürchtete sich nicht vor dem Tod, schließlich wusste er, was ihn erwartet. Nein, er fürchtete sich vor etwas, was er weder beschreiben, noch fassen konnte. Fern von allen Göttern war er ganz allein mit diesem Gefühl von Bedrohung und Vernichtung. Jetzt wusste er, wie tödlich dieser Wald war. Er wollte etwas sagen, doch auf einmal wurden die Lichter hell wie Riasions Scheibe und verzerrten ihn.
Usilian schüttelte sich in der Hoffnung, er würde sich damit von seiner Angst befreien.
Er schaute auf Rekos Schwert. Wundervoll geschmiedet, aus dunklem Stahl, verziert mit roten Steinen. Reko hatte stets wie auf seinen Augapfel darauf aufgepasst, selbst nachts war es stets an seiner Seite gewesen. Und jetzt lag es in Usilians Händen. Er nahm das Schwert, atmete schwer und legte es als Andenken, nicht als Bezahlung, vor den Kamin. Die letzten Flammen spiegelten sich in dem kalten Stahl. Noch in der Nacht ging Usilian mit seiner Laterne in den Steinbruch und fertigte Rekos Grabstein an und als die Sonnenscheibe am Abend darauf das Meer berührte, stellte er den Grabstein an die Stelle, von der Reko gesprochen hatte. Obwohl er alleine war, las er laut die Inschrift vor, als ob er die Umgebung warnen wollte.
"Reko Felsgrau
gestorben im Feenwald im Erntemond 14 n. B."
"Niemand geht in den Feenwald! Lasst mein Tod Euch eine Warnung sein!"